38 Grad im Schatten. Ich ziehe die Schuhe an und gehe Laufen. Kaum Menschen draußen. Keine Hunde, gut so. Krähen mit geöffneten Schnäbeln hüpfen über den Weg. Sehen verzweifelt aus. Ich laufe. Spüre wie sich vom Kopf aus eine Lähmung ausbreitet und schnell nach unten sinkt. Unterhalb des Brustbeins wächst eine Übelkeit, der ich lieber nicht nachgehen will. Die Beine gehorchen nicht richtig. Laufe aber weiter gegen eine fahle Sonne über einer diffusen schwarzen Wolkenwand. Laufe durch eine Kleingartenkolonie. Pralle Menschen zerfließen in der Hitze auf viel zu kleinen Liegen und Campingstühlen. Kleines Glück, großes Glück – spürbar wie eine leichte Brise.
Zuvor am Mittag in Kreuzberg. Die Hitze steht in den Straßen. Männer mit perfekt getrimmten Vollbärten, Clubwear-Hüten, großen Sonnenbrillen, Tattoos und Flipflops, die bei jedem Schritt wegen des Fußschweißes schmatzen. Abgeklärtes, weltgenießerisches Grinsen. Junge Frauen, knapp bekleidet, tragen auf der Haut, was sie sie auf der Seele haben: Cellulite, Tattoos, Piercings, die volle Bedeutungsdröhnung. Die Körperhaltung, die Sprechweise: monadenhafte Individualität, die öffentlichen Raum in Besitz nimmt, ihn kolonisiert. Jedes dieser Ichs beansprucht viel Platz, da wird es schnell eng. Und laut.
Ich ging in die Markthalle IX, aß eine geniale Gazpacho, fuhr mit dem Rad durch den Treptower Park, der am Spreeufer eine Baustelle ist. Auf den Grünflächen überall junge Menschen. Hippiestimmung. Die Gruppen: Jemand spricht, die anderen nicken sehr deutlich oder lachen sehr laut. Netzwerke bei der Empathieproduktion. Die Umwelt als Spiegel. Sonst viel roboterhaftes Ins-Handy-Starren. Hier fehlt doch was, dachte ich: Wo ist das Glück? Wo Anmut, Schönheit, echtes Gefühl, ein Lächeln vielleicht? Nicht auf den Wiesen im Treptower Park, nicht in den Straßen von 36. Aber in der Gazpacho. In den Schrebergärten, zur bräsigen Zufriedenheit gedimmt. Und sonst? Muss man ins Museum gehen, um was Echtes, Berührendes zu erleben? In die Bahnhofsmission? Zu einer Weinverkostung? Darum geht’s ja hier. Berlin Gutsriesling Cup, vor ein paar Wochen. Am Start 37 Rieslinge (meist Einstiegsweine, deren Etiketten das Weingut zeigen; daher Gutsrieslinge) von Gastgeber Martin Zwick sehr gekonnt ausgewählt. Und eine Jury aus Weinliebhabern (laut Begeisterung oder Missfallen ausdrückend), Weinkennern (breit dozierend über Weinfehler, Entsäuerung, Reifeprobleme) und Weinprofis (reden über Gott und die Welt, nur nicht über die Weine vor ihnen).
Einer muss gewinnen. Ist schon komisch, wenn kein schwacher Wein dabei ist und kein wirklich überragender. Selbst in dieser Kategorie ist das Niveau inzwischen sehr hoch. Und die stilistische Vielfalt sehr breit: Vom puristischen Mineralismus bis zum Happy-Sunshine-Wein. Bei der Probe gab es zum Glück nicht wenige Weine, die lächelten, die Glück, Anmut, Schönheit verbreiteten, gemacht für Weinliebhaber wie mich. Man vergab Punkte wie Parker. Am Ende entschieden ein paar Stellen hinterm Komma. Was soll‘s, ist ein Riesenspaß. Ein paar Tage später warb ein großer norddeutscher Weinhändler mit einem Probierpaket „Best of Gutsriesling“. „Die drei Sieger des BerlinGutsrieslingCup mit jeweils zwei Flaschen in einem Paket“. Ein vom Händler eingekaufter Blogger hatte an der Probe teilgenommen und den Deal eingefädelt. So werden in aller Unschuld vergebene Punkte zum Geschäft. Willkommen in der kommerziellen Verwertungskette! Künftig ohne mich. Klar, bei Wein geht es immer auch um Absatz und Geld. Aber nicht für mich. Für mich geht‘s nur um Schönheit und Genuss.
Ich muss den Brechreiz spüren, um gegen ihn anrennen zu können. 38 Grad, keine Sonne mehr, ich laufe weiter, gegen die Lähmung, die Übelkeit. Ich schwitze nicht mehr. Mein Hirn schmilzt. Ich denke an gebratene Gänseleber, außen geröstet, innen cremig. Ich möchte mein Hirn essen. Ich genieße den Moment vor dem Kollaps, zögere ihn hinaus bis zum Ziel. Das ist schön, denke ich, das ist ein wahres Gefühl.
Gutsriesling & Co. 2014: Sechzehnmal Glück, Anmut. Schönheit:
Gunderloch (Nackenheim/Rheinhessen) 2014 “Als wär´s ein Stück von mir“ Riesling trocken
Robert Weil (Kiedrich/Rheingau) 2014 QbA trocken.
Katrin Wind (Landau-Arzheim) 2014 Riesling trocken
Emrich-Schönleber (Monzingen/Nahe) 2014 Riesling trocken
Von Winning (Deidesheim/Pfalz) 2014 WinWin Riesling trocken
Dr. Bürklin-Wolf (Wachenheim/Pfalz) 2014 Dr. Bürklin-Wolf Riesling trocken
Georg Mosbacher (Forst/Pfalz) 2014 Riesling trocken
Schätzel (Nierstein/Rheinhessen) 2014 ReinStoff Riesling trocken
St. Antony (Nierstein/Rheinhessen) 2014 Rotschiefer trocken
Wagner Stempel (Siefersheim/Rheinhessen) 2014 Riesling Gutswein trocken
Josten & Klein (Remagen/Mittelrhein) 2014 Riesling Mittelrhein trocken
Wittmann (Westhofen/Rheinhessen) 2014 Riesling trocken
Thörle (Saulheim/Rheinhessen) 2014 Riesling trocken
Joh. Bapt. Schäfer (Nierstein/Rheinhessen) 2014 Riesling trocken
Schloss Johannisberg (Johannisberg/Rheingau) 2014 Schloss Johannisberger Riesling Gelblack trocken
Weedenborn (Monzernheim/Rheinhessen) 2014 riesling trocken