Jede Weinkarte ist unterteilt in verschiedene Sektionen: Weiß- und Rotwein, Rebsorten, Herkunft, trocken, rest- oder edelsüß. Ein System wie ein Möbelhaus oder das Zentralkomitee der SED, positivistisch, funktional, nicht in Frage zu stellen. Und genau deshalb wieder auch höchst zweifelhaft.
Befrage ich mich nämlich selbst, auf welche Flasche ich Lust hätte, und reiche diese Frage an meinen Weinkeller oder Kühlschrank weiter, so wäre die Weinkartensystematik kaum hilfreich. Ich denke nicht in Regalsystemen oder Sektionen, sondern rufe Sinneseindrücke hervor, betrachte diese wie Seifenblasen, lasse ihre Anmutung auf mich wirken bis eine Entscheidung gereift ist.
Dieser Prozess lässt sich zwar versachlichen, etwa, wenn es um einen Wein geht, der zu einem bestimmten Essen passen soll. Wer sich ihm jedoch sklavisch unterwirft, findet nur selten zum großen Wein-Glück. Denn das Weingenussbedürfnis führt ein starkes Eigenleben. Es ist oft stärker als der Anlass, ein Essen zu begleiten. Ich will in diesem Moment genau diesen Wein. Da ist mir gerade recht, dass er auch zum Essen passen könnte.
Ich befinde mich also in einer erinnerten Aromenwelt, die ich mit meinen Stimmungen und Bedürfnissen abgleiche. Ein Zwiegespräch, das ich natürlich auch mit einer herkömmlichen Weinkarte im Restaurant führen kann, sofern ich die angebotenen Tropfen aus eigenem Erleben kenne. Oder mit einem Sommelier, was überaus reizvoll ist, wenn sein Werben für diesen oder jenen Wein auf mich eine Verführungskraft ausstrahlt. Eine solche Beziehung setzt ein intuitives Verständnis voraus, das mehr im Zwischenmenschlichen als in der Weinkompetenz allein gründet. Um mich anzufixen muss mir keiner eine Terroir-Arie singen oder die Weinbereitungsphilosophie vorbeten. Auch ist mir völlig gleichgültig, ob der Winzer auf Punk steht oder sich als Frau fühlt. Es geht vielmehr um die Wirkung von Poesie (was freilich nicht heißt, dass der Sommelier oder die Sommeliere Sprachkünstlerinnen oder –künstler sein müssten, nein, es geht nur um die Wirkung: den Moment der Verzauberung).
Ich bin deshalb schon froh, wenn die Weinberatung zu dem Ergebnis führt, dass der Wein zum Essen passt und auch noch gut schmeckt. Verzauberung erwarte ich nicht unbedingt im Restaurant.
Und das ist eigentlich schade. Gerade dort, wo der Wein im Mittelpunkt steht, in Weinbars oder Restaurants, die sich zu einer Weinpassion bekennen, wäre doch genau der richtige Ort, um den Moment der Verzückung nicht nur zu suchen, sondern auch zu finden. Wobei – um ein weiteres Missverständnis auszuschließen – das in einem bestimmten Moment größtmögliche Weinglück nicht unbedingt im größtmöglichen Wein liegt. Ja, der Weinkenner oder die Weinkennerin, die eine Karte zu lesen vermögen, sind hier im Vorteil. Aber der große Rest vergnügungssüchtiger und verführbarer Gäste?
Eben daran musste ich denken, als ich mich kürzlich mit Stuart und Freunden in der Berliner Weinschenke „Weinstein“ traf. Naturgemäß oblag dem Großkritiker und Welt-Rieslingversteher, die erste Flasche auszuwählen. Und Stuart sagte zu meiner Überraschung: „Nehmen wir einen lustigen Wein“. Oh Gott, diese Pigottsche Exzentrik! Ein „lustiger Wein“, was soll das bitte schön sein?
Ich erinnerte mich in diesem Moment an meinen Großvater, der mit großem Eifer auszurufen pflegte: „Wein muss nach Wein schmecken, und nach sonst nichts!“ Und phantasierte Loriotsche Restaurantszenen herbei, á la: „Ober, einen Wein, bitte. Aber einen schönen Wein.“
Und doch liegt in diesen satirischen Zuspitzungen eine tiefe Wahrheit und Aufrichtigkeit, die nur deshalb seltsam wirkt, weil sich solche Ansagen und Wünsche nicht aus dem Reich des völlig Subjektiven heraus begeben. Ebenso wie im Pigottschen Bestellwunsch. Ein „lustiger Wein“! Wären wir Fremde unter Fremden gewesen, eine slapstickhafte Kommunikation hätte sich angeschlossen. Aber wir erkannten schnell (und ahnten es bereits früher), was Stuart wollte: Einen Wein, der die Sinne weckt, der freudige Gefühle und gute Stimmung animiert, der auf der Zunge tanzt, ohne das Gespräch durch einnehmendes oder forderndes Verhalten zu behindern. Ein sichere Plattform, auf der sich der Abend und was er an zu leerenden Flaschen mit sich brachte, sinne- und geschmackspapillenweitend aufbauen konnte. Also das, was in vielen Restaurants das Glas Champagner zu Beginn leisten soll, aber selten schafft. (Foto von Vuk Karadzic)
Es wäre also an der Zeit, die hergebrachte Weinkartensystematik zu hinterfragen. Warum gibt es auf Weinkarten keine „lustigen Weine“? Warum keine „Meditationsweine“, die doch immerhin den Hinweis liefern, dass sie alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen und jedes Gespräch absterben lassen? Weshalb fehlen Hinweise auf eine unmittelbare, durchaus sexualisierbare Sinnlichkeit, die dem Genießer eine Schnappatmung und Schweißperlen auf der Stirn bescheren können? Warum werden nicht explizit Weine empfohlen, die Dialog oder Disput hervorrufen. Ja, sogar der „schwierigen Wein“, der erobert werden will und dem Genießer oder der Genießerin alles abverlangt, sei erlaubt. Denn all dies sind soziale Kontexte, die beim Weingenuss denkbar oder sogar wünschenswert sind.
Wer in einem Restaurant oder einer Bar sitzt, will sich unterhalten und zwar auf eine andere Art als zu Hause – selbst wenn ein Gast allein ist. Wein ist Katalysator von Kommunikation, wird aber in diesem Zusammenhang oft völlig unterschätzt. Mit Wein entsteht ein Gespräch, das seine besondere Stimmung erst durch den Zusammenklang von Personen, ihren Emotionen und den passenden Flaschen erzielt. So wie es der „lustige Wein“ vermochte. Es war übrigens ein 2012 Ayler Kupp Riesling Fass 2 des Weinguts Peter Lauer (Ayl/ Saar) – verdammt lustiges Zeug für einen lustigen Abend.