Weintelegramm 11

Seit ich am 16. 12. in ein weißes Loch gefallen bin, frage ich mich, wer ich bin und ob ich überhaupt noch eine Identität besitze? stop an diesem Tag bin ich mit schlappen 20 Stunden Verspätung endlich am Flughafen Toronto angekommen, jedoch ohne Koffer stop draußen tobte der schlimmste Schneesturm seit 1944 stop schwierig zu glauben, dass nur eine kurze Autofahrt vom Flughafen entfernt auf der Niagra Halbinsel Wein angebaut wird stop Toronto ist eine eisige Geisterstadt kurz vor dem kompletten Zusammenbruch stop als ich am Haus meines Kollegs Tony Aspler und seiner Frau Deborah ankomme, stelle ich fest, dass Pass und Kreditkarten gestohlen wurden stop weil ich nie einen Führerschein machte und auch keine Presseausweise haben möchte, kann ich mich jetzt weder ausweisen noch ausreisen stop dazu kommt die komplette Zahlungsunfähigkeit als üppiges Sahnehäubchen auf der prächtigen weißen Weihnachts-Desastertorte stop tagsüber kämpfe ich mit der Bürokratie, um hier raus zu kommen, abends zeigt mir Tony die Fortschritte des kanadischen Weinbaus stop gestern Abend bin ich nicht aus dem Staunen heraus gekommen stop 2004 Stratus ist ein Cabernet Sauvignon Rotwein von Niagra, der wie ein kalifornischer Kult-Cabernet duftet, aber leichter im Körper ist und bedeutend frischer schmeckt stop vorgestern Abend hat mich der 2004 Pinot Noir Claystone Terrace von Le Clos Jourdanne auch von Niagra enorm begeistert stop er duftete fast exakt wie ein burgundisches Gewächs, ist aber ein wenig geschmeidiger und steckt fast 15 Volumenprozent Alkohol mühelos weg stop selbstverständlich sind diese Weine bei uns nicht zu finden, weil für uns Kanada ein Land von Holzfällern und langweiligen Halbamerikaner ist stop aber wer sind wir? stop biersaufende und wurstfressende Altnazis in Lederhosen oder doch friedliche Weltbürger? stop oftmals kommt mir die angebliche Weltoffenheit der Deutschen wie eine Wirtschaftsstrategie vor, nach dem Motto: verkaufen, verkaufen, verkaufen! stop aber wer bin ich?

This entry was posted in Wein Telegramm@de. Bookmark the permalink.