Über die Bedeutung des Zeitraums vom einen Jahrhundert habe ich die letzten Tage viel nachgedacht, weil Anfang Mai meine Oma mütterlicherseits hundert wird und ich vor wenigen Tagen hundert Jahrgänge Riesling der Staatsweingüter Kloster Eberbach/Rheingau verkostet habe. +++ „Ich will Weine machen wie vor hundert Jahren!“, habe ich von zahlreichen Jungwinzern und älteren Winzern gehört, die jung im Kopf geblieben sind. +++ Dabei war es mir immer klar, dass „vor hundert Jahren“ uns in die eher unbedenkliche Zeit vor 1914 versetzt, vor den großen deutschen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. +++ Hundert ist aber auch eine magische Zahl, die eine Art heile Welt verspricht, in der alles noch sauber und in Ordnung war, obwohl damals in der Weinszene große Kontroversen tobten. +++ Hinzu kommt die Tatsache, dass man oft gar nicht weiß, wie die Weine vor hundert Jahren schmeckten. Ich habe zum Beispiel nie von solchen Flaschen aus Hohen-Sülzen/Rheinhessen oder Winningen/Terrassenmosel gehört, geschweige denn sie getrunken. +++ Denn da gab es keine preußische Staatsdomänen, wo Flaschen systematisch weggelegt wurden wie in Kloster Eberbach zwischen 1866 und 1945. +++ Außerdem hatten Hohen-Sülzen und Winningen das Pech, ab 1945 Teil der französischen Besatzungszone zu sein, wo völkerrechtswidrig in großem Maß (nicht nur) Wein geplündert wurde, in Gegensatz zur amerikanischen Besatzungszone, in der Kloster Eberbach lag. +++ Alle diese Tatsachen und die Begeisterung für die Idee „100 Jahrgänge Riesling“ des Tre-Torri-Verlagschefs Ralf Frenzel und des Direktors der Hessischen Staatsweingüter Kloster Eberbach ermöglichten einen einmaligen Moment in meinen Leben. +++ Vor mir auf dem Tisch standen trockene Rieslinge aus den Jahrgängen ’09, ’07, ’06, ’05, ’02, ’01, ’00, ’99, ’98, ’97, ’96, ’95, ’93 und ’92, womit ich nicht nur Weine aus die uns vertrauten Jahrgänge meine, sondern eine Reihe, die mit 1909 anfing und mit 1892 aufhörte! +++ Meine Oma wurde 1910 geboren und damit stammten sämtliche diese Weine aus einer Welt, die für mich nur als geschriebene und archivierte Geschichte existiert. +++ Es war am Vormittag des zweiten Tags der Verkostung, und wir saßen im Mönchsrefektorium, rechts von mir eine nicht weniger erstaunte Jancis Robinson (siehe www.jancisrobinson.com). +++ Das Interessante war aber nicht alleine diese Situation, sondern wie diese Weine schmeckten. +++ Natürlich schmeckten sie gereift, aber sie wurden uns blind serviert, und ich war nicht der einzige unter den Anwesenden, der ihr Alter um einige Jahrzehnte unterschätzte, so vital präsentierten sich die meisten von ihnen. +++ Mit vollem Körper (12,5% – 13,5% Alkoholgehalt) und einer ordentlichen Menge Gerbstoff waren sie ausgestattet, die besten wiesen aber auch eine reife Säure auf, bzw. sie hatten eine Balance, die durchaus mit den heutigen Ersten Gewächsen des Rheingaus und den Großen Gewächsen anderer Gebiete vergleichbar ist! +++ Eins jedoch fehlte: jeglicher Anflug des heute oft geschätzten „Sponti“-Aromas, bzw. sulfidische Aromen von der „Spontangärung“ mit „wilden Hefen“. +++ Offensichtlich war man damals bedacht, diese Note zu vermeiden oder zu minimieren, bzw. es ist eine Firnis, die wir auf die Weinen dieser Vergangenheit projizieren! +++ Stattdessen gab es Noten von getrockneten Aprikosen, Birnen und Zitronat, Gewürzen, getrockneten Kräutern, sowie Nüssen, Karamell und Rauch. +++ Überraschend saftig und kräftig mit lang anhaltendem Finale schmeckten Jahrgänge wie 1899 und ’93. +++ Ich habe Geschichte getrunken, und sie schmeckte keinesfalls nach Staub, sondern nach verdammt gutem Handwerk und enormem Ehrgeiz. +++ Es tut mir leid, dies nur in dieser Form teilen zu können. +++ Viele Jungwinzer hätten da viel gelernt über die Wahrheit im Wein vor hundert und mehr Jahren!